Ist eine LWS-Erkrankung als Berufskrankheit anzuerkennen?

Berufskrankheiten sind ebenso wie Arbeitsunfälle Versicherungsfälle der gesetzlichen Unfallversicherung. Grundsätzlich sind die in der Berufskrankheitenliste aufgeführten Krankheiten getrennt zu betrachten. Wenn jedoch eine Krankheit durch verschiedene berufliche Einwirkungen verursacht wird, können dann die Voraussetzungen für die Anerkennung von mehreren Berufskrankheiten erfüllt sein? Mit der Beantwortung dieser Frage hatte sich das Hessische Landessozialgericht (LSG) zu befassen, als es unlängst über die Berufung einer Entscheidung des Sozialgerichts Wiesbaden aus dem Jahr 2012 entschied.

Hessisches Landessozialgericht, Urteil vom 4. Mai 2021 – L 3 U 70/19 –

Der Entscheidung des LSG lag folgender Sachverhalt zugrunde

Der als Heimatvertriebener anerkannte und 1952 geborene Mann leidet an einer Erkrankung der Lendenwirbelsäule (LWS). In den Jahren 1975 bis 1991 war er als LKW-Fahrer auf unebenen Landstraßen in Kasachstan tätig. Nach seiner Einreise in die Bundesrepublik arbeitete er als Gießereiwerker, Betonfertigteilbauer und Lagerarbeiter. 2008 schied er aus dem Berufsleben aus. Er bezieht seitdem eine Erwerbsminderungsrente.

Erfolgloser Antrag bei der Berufsgenossenschaft

Aufgrund seines LWS-Leidens stellte er einen Antrag auf Anerkennung einer Berufskrankheit der von der Berufsgenossenschaft (BG) abschlägig beschieden wurde. Begründet wurde die Entscheidung damit, dass ein Ursachenzusammenhang zwischen der berufsbedingten Belastung und seinem Wirbelsäulenschaden nicht hinreichend wahrscheinlich sei. Gegen diese Entscheidung erhob der Mann am 4.8.2011 Klage beim Sozialgericht (SG) Wiesbaden, die durch Gerichtsbescheid entschieden wurde.

Wie der Begründung des Gerichtsbescheids des Wiesbadener SG vom 27.9.2012, Az: S 19 U 95/11, zu entnehmen ist, ging das Gericht seinerzeit davon aus, das deshalb durch Gerichtsbescheid entschieden werden konnte, weil die Sache keine besonderen Schwierigkeiten in tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweist und der Sachverhalt geklärt ist“.

Gegen die erstinstanzliche Entscheidung legte der Kläger am 8.11.2012 Berufung beim Hessischen Landessozialgericht ein, dass nach über acht Jahren zu einem anderen Ergebnis als das erstinstanzliche Gericht kam.

Maßgeblich für das Erreichen des Richtwertes ist die Kombinationsbelastung

Bei dem Kläger, so das LSG, liege eine bandscheibenbedingte Erkrankung der unteren LWS vor. Mit hinreichender Wahrscheinlichkeit sei diese auf die physikalischen Einwirkungen während seines Berufslebens zurückzuführen, so dass die Berufskrankheiten Nr. 2108 und Nr. 2110 anzuerkennen seien. Es habe eine besonders intensive Belastung vorgelegen. Anhaltspunkt sei insoweit das Erreichen des Richtwertes für die Lebensdosis in weniger als 10 Jahren. Eine solche Belastung könne durch schweres Heben und Tragen von Lasten erfüllt werden, aber auch durch Ganzkörperschwingungen oder durch die Kombination dieser beiden Belastungsarten. Durch die Kombinationsbelastung habe der Kläger den Richtwert für die Lebensdosis in weniger als 10 Jahren erfüllt.

Fehlende Software hindert BG notwendige Berechnungen vorzunehmen

Das Argument der Beklagten, dass dem Präventionsdienst der BG für eine derartige Berechnung keine Software zur Verfügung stehe, hielten die Richter*innen nicht für durchgreifend. Denn dies könne das Gericht nicht daran hindern, die Berechnung anhand der ihm vorliegenden Daten selbst vorzunehmen.

Was lange währt, wird endlich gut!

Unter Aufhebung der erstinstanzlichen Entscheidung aus dem Jahr 2012 wurde die bei dem Kläger vorliegende LWS Erkrankung durch das Hessische LSG als Berufskrankheit anerkannt.

Keine Zulassung der Revision

Die Revision zum Bundessozialgericht wurde vom LSG nicht zugelassen, sodass dessen Entscheidung rechtskräftig ist.

Hier geht es zur Entscheidung des Hessischen Landessozialgerichts vom 4.5.2021:

https://www.lareda.hessenrecht.hessen.de/bshe/document/LARE210001019

Für Interessierte:

Hier geht es zur Entscheidung des Sozialgerichts Wiesbaden, Gerichtsbescheid vom 27. September 2012, Az: S 19 U 95/11:

https://openjur.de/u/2346795.html

Rechtslage:

Auszüge aus §§ 7 und 9 des Sozialgesetzbuchs VII (SGB VII) und der Berufskrankheiten-Verordnung (BKV)

§ 7 SGB VII

(1) Versicherungsfälle sind Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten.

§ 9 SGB VII

(1) Berufskrankheiten sind Krankheiten, die die Bundesregierung durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates als Berufskrankheiten bezeichnet und die Versicherte infolge einer den Versicherungsschutz nach § 2, 3 oder 6 begründenden Tätigkeit erleiden. Die Bundesregierung wird ermächtigt, in der Rechtsverordnung solche Krankheiten als Berufskrankheiten zu bezeichnen, die nach den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft durch besondere Einwirkungen verursacht sind, denen bestimmte Personengruppen durch ihre versicherte Tätigkeit in erheblich höherem Grade als die übrige Bevölkerung ausgesetzt sind; (…)

§ 1 Berufskrankheiten-Verordnung (BKV)

Berufskrankheiten sind die in der Anlage 1 bezeichneten Krankheiten (…).

Anlage 1 zur BKV

Nr. 2108: Bandscheibenbedingte Erkrankungen der Lendenwirbelsäule durch langjähriges Heben oder Tragen schwerer Lasten oder durch langjährige Tätigkeiten in extremer Rumpfbeugenhaltung, die zu chronischen oder chronisch-rezidivierenden Beschwerden und Funktionseinschränkungen (der Lendenwirbelsäule) geführt haben.

Nr. 2110: Bandscheibenbedingte Erkrankungen der Lendenwirbelsäule durch langjährige, vorwiegend vertikale Einwirkung von Ganzkörperschwingungen im Sitzen, die zu chronischen oder chronisch-rezidivierenden Beschwerden und Funktionseinschränkungen (der Lendenwirbelsäule) geführt haben

Für Interessierte:

Hier geht es zur Entscheidung des Sozialgerichts Wiesbaden, Gerichtsbescheid vom 27. September 2012, Az: S 19 U 95/11:

https://openjur.de/u/2346795.html

Was ist ein Gerichtsbescheid?

Ein Gerichtsbescheid ersetzt das Urteil im Bereich des finanzgerichtlichen oder sozialgerichtlichen Verfahrens und wird nur durch die Berufsrichter erlassen, also ohne Beteiligung von ehrenamtlichen Richtern.

Wann darf der Gerichtsbescheid erlassen werden?

Der Gerichtsbescheid darf nur dann anstelle eines Urteils erlassen werden, wenn die Sache keine besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweist und der Sachverhalt geklärt ist. Der Gerichtsbescheid hat die Wirkungen eines Urteils.

§ 84 Verwaltungsgerichtsordnung
[Gerichtsbescheid]

(1) 1Das Gericht kann ohne mündliche Verhandlung durch Gerichtsbescheid entscheiden, wenn die Sache keine besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweist und der Sachverhalt geklärt ist. 2Die Beteiligten sind vorher zu hören. 3Die Vorschriften über Urteile gelten entsprechend.

(2) Die Beteiligten können innerhalb eines Monats nach Zustellung des Gerichtsbescheids

1.Berufung einlegen, wenn sie zugelassen worden ist (§ 124a),
2.Zulassung der Berufung oder mündliche Verhandlung beantragen; wird von beiden Rechtsbehelfen Gebrauch gemacht, findet mündliche Verhandlung statt,
3.Revision einlegen, wenn sie zugelassen worden ist,
4.Nichtzulassungsbeschwerde einlegen oder mündliche Verhandlung beantragen, wenn die Revision nicht zugelassen worden ist; wird von beiden Rechtsbehelfen Gebrauch gemacht, findet mündliche Verhandlung statt,
5.mündliche Verhandlung beantragen, wenn ein Rechtsmittel nicht gegeben ist.

(3) Der Gerichtsbescheid wirkt als Urteil; wird rechtzeitig mündliche Verhandlung beantragt, gilt er als nicht ergangen.

(4) Wird mündliche Verhandlung beantragt, kann das Gericht in dem Urteil von einer weiteren Darstellung des Tatbestandes und der Entscheidungsgründe absehen, soweit es der Begründung des Gerichtsbescheides folgt und dies in seiner Entscheidung feststellt.