Gleicher Lohn für gleichwertige Arbeit

Der Grundsatz, Männer und Frauen bei gleicher oder gleichwertiger Arbeit auch gleich zu entlohnen, gehört zu den Grundlagen der Europäischen Union. Art. 157 AEUV, der gleichen Bezahlung von Männern und Frauen bei gleicher oder gleichwertiger Arbeit vorschreibt, wenn die Entgeltbedingungen aus derselben Quelle stammen, entfaltet unmittelbare Wirkung auch für die nationalen Gerichte. Ob Arbeiten gleichwertig sind, ist eine Frage der Tatsachenwürdigung durch das nationale Gericht.

Europäischer Gerichtshof (EuGH), Urteil vom 3. Juni 2021 – C-624/19 (Tesco Stores)

Es geht um das Recht der Europäischen Union (EU) und darum, inwieweit dieses auch den einzelnen Unionsbürger betrifft. Zwar ist es ein Fall aus dem Vereinigten Königreich, das inzwischen die Union verlassen hat (Brexit). Er ist aber noch nach den europäischen Rechtsvorschriften zu beurteilen. Die Verfahren wurden 2018 vor nationalen Gerichten geführt. Die britischen Gerichte hatten dem EuGH die Sachen zur Vorabentscheidung vorgelegt. Dieser konnte feststellen, dass er nach Art. 86 des Austrittsabkommens trotz des Austritts des Vereinigten Königreichs aus der Europäischen Union für das Vorabentscheidungsersuchen zuständig ist.

6.000 Beschäftigte eines Unternehmens im Wirtschaftsbereich Einzelhandel haben Klage erhoben

Konkret musste der EuGH entscheiden, ob sich Arbeitnehmer*innen in der EU in Rechtsstreitigkeiten zwischen Privaten sowohl bei „gleicher“ als auch bei „gleichwertiger Arbeit“ unmittelbar auf den unionsrechtlich verankerten Grundsatz des gleichen Entgelts für Männer und Frauen berufen können.

Tesco Stores ist ein Einzelhändler, der seine Waren sowohl online als auch in Ladengeschäften im Vereinigten Königreich vertreibt.  Im Unternehmen sind rund 250000 Arbeitnehmer*innen beschäftigt.  Es verfügt auch über ein Vertriebsnetz mit rund 11000 Arbeitnehmer*innen, die ebenfalls verschiedene Arten von Tätigkeiten ausüben.

Rund 6000 Arbeitnehmer*innen oder ehemalige Arbeitnehmer*innen von Tesco Stores, die in deren Ladengeschäften beschäftigt sind oder waren und bei denen es sich sowohl um Frauen als auch um Männer handelt, erhoben gegen Tesco Stores beim Watford Employment Tribunal (Arbeitsgericht Watford, Vereinigtes Königreich) ab Februar 2018 Klagen. Die Frauen machen geltend, dass Männer und Frauen für die gleiche Arbeit nicht das gleiche Entgelt erhalten hätten.

Primäres und sekundäres europäisches Recht

Vorab einige kurze Anmerkungen zum europäischen Recht. Europäisches Recht teilt man ein in primäres und sekundäres Recht. Primäres Recht ist so eine Art europäisches Verfassungsrecht. Das sind die Verträge, von denen der Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) einer ist. Das Sekundärrecht wird im Rahmen der primärrechtlichen Verträge und gemäß den dort festgelegten Regeln erlassen. In Artikel 288 AEUV nehmen die Organe für die Ausübung der Zuständigkeiten der Union Verordnungen, Richtlinien, Beschlüsse, Empfehlungen und Stellungnahmen an.

  • Die Verordnung hat allgemeine Geltung. Sie ist in allen ihren Teilen verbindlich und gilt unmittelbar in jedem Mitgliedstaat.
  • Die Richtlinie ist für jeden Mitgliedstaat, an den sie gerichtet wird, hinsichtlich des zu erreichenden Ziels verbindlich, überlässt jedoch den innerstaatlichen Stellen die Wahl der Form und der Mittel.
  • Beschlüsse sind in allen ihren Teilen verbindlich. Sind sie an bestimmte Adressaten gerichtet, so sind sie nur für diese verbindlich.
  • Die Empfehlungen und Stellungnahmen sind nicht verbindlich.

Artikel 157 Absatz 1 AEUV schreibt vor, dass jeder Mitgliedstaat die Anwendung des Grundsatzes des gleichen Entgelts für Männer und Frauen bei gleicher oder gleichwertiger Arbeit sicherstellt.

Das britische Gericht ist sich nicht sicher, ob Artikel 157 AEUV unmittelbar wirkt

Das Watford Employment Tribunal hat dem EuGH die Sachen zur Vorabentscheidung vorgelegt, weil es unsicher ist, ob Artikel 157 AEUV unmittelbar wirkt. Dies hänge insbesondere mit der Unterscheidung zusammen, die der Gerichtshof zwischen den Diskriminierungen, die sich schon anhand der Merkmale „gleiche Arbeit“ und „gleiches Entgelt“ alleinfeststellen ließen, und denjenigen, die nur nach Maßgabe eingehenderer Durchführungsvorschriften festgestellt werden könnten, vorgenommen habe, meint das Tribunal.

Der EuGH hat jetzt entschieden, dass Artikel 157 AEUV unmittelbar Wirkung entfaltet. IM Einzelnen stellt der EuGH fest:

  • Art. 157 AEUV gebe eindeutig und bestimmt eine Ergebnispflicht auf und habe zwingenden Charakter. Dies gelte sowohl in Bezug auf eine „gleiche“ als auch in Bezug auf eine „gleichwertige Arbeit“,
  • Art. 157 AEUV entfalte nach ständiger Rechtsprechung unmittelbare Wirkung, indem er für Einzelne Rechte begründe, die die nationalen Gerichte zu gewährleisten hätten, u. a. im Fall von Diskriminierungen, die ihren Ursprung unmittelbar in Rechtsvorschriften oder in Kollektivverträgen hätten, sowie in dem Fall, dass die Arbeit in ein und demselben privaten oder öffentlichen Betrieb oder Dienst verrichtet werde.
  • Die aufgeführten Diskriminierungen zählten zu denen, die sich bereits anhand der in Artikel 119 EWG-Vertrag verwendeten Merkmale „gleiche Arbeit“ und „gleiches Entgelt“ allein feststellen ließen. Richter*innen seien in diesen Fällen in der Lage, alle die Tatsachenfeststellungen zu treffen, die es ihnen ermöglichten, zu beurteilen, ob eine Arbeitnehmerin ein geringeres Entgelt beziehe als ein Arbeitnehmer, der die gleiche oder eine gleichwertige Arbeit leiste.

Ob Arbeiten „gleichwertig“ sind, ist eine Frage der der Tatsachenwürdigung durch das nationale Gericht

Es ergibt sich somit nach den Feststellungen des EuGHs, dass die unmittelbare Wirkung von Artikel 157 AEUV nicht auf Fälle beschränkt ist, in denen die miteinander verglichenen Arbeitnehmer unterschiedlichen Geschlechts die „gleiche Arbeit“ verrichten, sondern sich auch auf die Fälle erstreckt, in denen diese eine „gleichwertige Arbeit“ verrichten. Ob das der Fall sei, erklärte der EuGH, sei eine Frage der Tatsachenwürdigung, die von den nationalen Gerichten zu erfolgen habe.

Sodann stellt der EuGH fest, dass der Grundsatz, Männer und Frauen bei gleicher oder gleichwertiger Arbeit auch gleich zu entlohnen, zu den Grundlagen der Union gehört. Entscheidend sei aber, dass die Entgeltbedingungen aus der gleichen Quelle kämen. In einem Rechtsstreit, in dem es um eine gleichwertige Arbeit ginge, die von Arbeitnehmer*innen verschiedenen Geschlechts, die denselben Arbeitgeber haben, in verschiedenen Betrieben dieses Arbeitgebers verrichtet würden, könne Artikel 157 AEUV daher vor den nationalen Gerichten geltend gemacht werden, sofern der Arbeitgeber  eine  solche  einheitliche Quelle darstelle.

Hier geht es zur Entscheidung des EuGHs: