Cannabis statt neuer Hodenprothese?

Seit März 2017 zahlen die gesetzlichen Krankenkassen unter gewissen Voraussetzungen für medizinische Cannabisblüten als Medikament. Seit dieser Zeit war es nämlich legal, Cannabis nicht nur als Zubereitung, sondern auch in Form von getrockneten Blüten zu verschreiben. Sind Schmerzen Folge eines langjährigen chronischen Geschehens, ist die Verordnung dieses Medikamentes allerdings nicht eilbedürftig, meint das LSG Niedersachsen-Bremen.

Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 11.05.2021, L 16 KR 163/21 B ER

Cannabis ist eine Pflanze aus der Familie der Hanfgewächse, aus der u.a. Rauschmittel wie Haschisch und Marihuana gewonnen werden. Der Anbau von Cannabis ist in den meisten westlichen Ländern Privatleuten auch nicht erlaubt, da das Gewächs einen Wirkstoff enthält (Tetrahydrocannabinol – THC), der unter das Betäubungsmittelgesetz (BtMG) fällt. Dieser Stoff war bis 2011 in Deutschland nicht verkehrsfähig.

Dabei ist seit langem klar, dass Cannabis als Schmerzmedikament sehr wirksam ist. Es wurde bereits in der Antike als solches verwendet. Hanf war zudem bis in die Neuzeit eine wichtige Nutzpflanze, die auch in Europa in großem Maße angebaut wurde.

Erst seit Kurzem wird zur Kenntnis genommen, dass Cannabis auch pharmakologisch wirkt

Aus kaum erklärbaren Gründen stand die Pflanze in Europa und den USA lange in Verruf. Sie galt als reines Rauschgift, das vorwiegend Hippies und Rastafaris konsumierten und die damit vor allem das Establishment provozieren wollten. Dass Cannabis auch pharmakologisch wirkt, wird erst seit Kurzem wieder zur Kenntnis genommen. Neben THC enthält die Pflanze nämlich auch weitere Wirkstoffe, allen voran Cannabidiol (CBD), das nicht psychotrop wirkt, aber eine entkrampfende, entzündungshemmende und angstlösende Wirkung hat. Allerdings hat die EU-Kommission CBD 2020 auch als BTM eingestuft.

Seit 2011 ist Cannabis als Betäubungsmittel (BTM) verkehrs- und verschreibungsfähig, allerding zunächst nur, wie andere BTM auch, als „zubereitetes“ Medikament. Getrocknete Blüten durften nicht verschrieben werden. Das änderte sich allerdings im März 2017, als der Gesetzgeber 2017 das Betäubungsmittelegesetz geändert und in die Verordnung über das Verschreiben, die Abgabe und den Nachweis des Verbleibs von Betäubungsmitteln eben diese Möglichkeit eingefügt hatte.

Nicht jeder darf in Deutschland Cannabis anbauen

Der Anbau von Cannabis ist allerdings in Deutschland immer noch grundsätzlich verboten. Wer es zu medizinischen Zwecken anbauen will, braucht eine Genehmigung der Cannabisagentur, die eigens wegen der Änderung im Gesetz errichtet wurde. Ärzt*innen dürfen ihren Patient*innen bis zu 100 Gramm Cannabis in Form getrockneter Blüten verordnen, wenn es medizinisch angezeigt ist.

John Sievers (Name von der Redaktion geändert) leidet seit Jahren unter chronischen Rückenschmerzen im Bereich der HWS und LWS. Eine psychische Beteiligung ist hinzugetreten. Im Jahre 2013 kam ein Hodentumor dazu, der auch nach Sanierung Schmerzen bereitet, da Herrn Sievers ein zu großes Implantat eingesetzt wurde.

Verschiedene medikamentöse Schmerztherapien haben in der Vergangenheit nicht den gewünschten Erfolg gezeigt. John Sievers hat sich deshalb von seinem Hausarzt Cannabis privat verordnen lassen. Das wurde über die Zeit allerdings sehr teuer, sodass er sich weitere privatärztliche Verordnungen des Medikamentes nicht mehr leisten konnte.

Die Krankenkasse meint, Herr Sievers müsse zunächst die allgemein anerkannten medizinischen Maßnahmen ausschöpfen

Sein Schmerztherapeut beantragte deshalb bei der gesetzlichen Krankenversicherung, in der Herr Sievers Mitglied ist, die Kosten für Cannabisblüten zu übernehmen. Er verwies darauf, dass bei John Sievers eine chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren sowie ein Zustand nach Hodenkrebs und ein HWS- und LWS-Syndrom vorliegt.

Mit Bescheid vom 20. November 2020 lehnte die Krankenversicherung den Antrag ab. Die sozialmedizinischen Voraussetzungen zur Leistungsgewährung seien nicht erfüllt, da Alternativen zur Verfügung stünden. Es sei nicht ersichtlich, dass Herr Sievers schwer krank sei. Privatrezepte seien keine Kassenleistung und könnten auch nicht erstattet werden.

Hiergegen hat Herr Sievers Widerspruch eingelegt, begründete diesen allerdings erst nach gewährter Fristverlängerung. Im Widerspruchsverfahren holte die Krankenkasse ein Gutachten ihres medizinischen Dienstes ein. Dieser stellte fest, dass keine schwerwiegende Erkrankung vorliegen würde. Die allgemein anerkannten medizinischen Maßnahmen seien bisher in keiner Weise erkennbar ausgeschöpft worden. Dies betreffe sowohl Analgetika als auch ambulante oder stationäre rehabilitative Maßnahmen. Auch urologische Maßnahmen seien nicht ausgeschöpft, denn bei der Implantation einer zu großen Prothese wäre diese entsprechend zu ersetzen.

Das Landessozialgericht ist der Auffassung, dass der Antrag nicht dringlich ist

Zugleich hat John Sievers vor dem Sozialgericht (SG) Braunschweig um die Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes nachgesucht. Er leide nach seinem Vorbringen unter erheblichen Schmerzen, welche mit herkömmlichen Schmerzmitteln nicht zu stillen seien und könne die Therapie mit Cannabisblüten nicht aus eigenen Mitteln bestreiten.

Er legte Atteste der behandelnden Ärzte vor, die seinen Versorgungswunsch stützen. Zudem führte er zur Begründung aus, dass herkömmliche Schmerzmittel nicht helfen würden, sodass er nun dringend Cannabis benötige. Zwar sei ihm ein Austausch der Prothese angeboten worden, jedoch lehne er den Eingriff aus Sorge vor Impotenz ab. Das SG wiederum lehnte den Antrag ab. Das Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen-Bremen wies seine Beschwerde gegen diese Entscheidung jetzt zurück.

Das LSG hat den Eilantrag schon deshalb abgelehnt, weil er aus Sicht des Gerichts nicht dringlich ist. Es könne von dem Mann erwartet werden, eine Entscheidung im Hauptsacheverfahren abzuwarten. Denn es liege kein medizinisch dringendes Akutgeschehen vor, das eine vorgezogene Entscheidung rechtfertige.

Das LSG meint, es stünden Leistungen zur Verfügung, die dem medizinischen Standard entsprächen

Wer ein zu großes Hodenimplantat über sechs Jahre lang nicht austauschen lasse, seinen Widerspruch bei der Kasse nur zögerlich begründe und sich dann bei Gericht auf Eilbedürftigkeit berufe, verhalte sich inkohärent. Außerdem sei es nicht ersichtlich, dass Rückenschmerzen und eine beschwerdeträchtige Hodenprothese allein durch Cannabis behandelt werden müssten.

Obwohl es hierauf nicht mehr ankommt, hatte das LSG auch noch Ausführungen zum Anspruch als solchem gemacht. Ein Anordnungsanspruch sei nicht ersichtlich, meint das LSG.  Zu Recht habe das SG ausgeführt, dass allgemein anerkannte, dem medizinisch Standard entsprechende Leistungen zur Verfügung stünden. Es sei nicht ersichtlich, dass Rückenschmerzen und eine beschwerdeträchtige Hodenprothese allein durch Cannabis behandelt werden müssten.

Hier geht es zur Entscheidung des Landessozialgerichts:

Anmerkung des Autors:

Das Verfahren ist noch nicht abgeschlossen. Das LSG hat den Eilantrag abgelehnt, weil es die Sache nicht für eilbedürftig hält. Wobei bereits fraglich ist, ob Schmerzen, die mit herkömmlichen Schmerzmitteln nicht zu stillen sind, nicht doch Eile gebieten. Ernst ist eine Krankheit nicht nur, wenn sie lebensgefährlich ist. Auch starke Schmerzen machen eine Krankheit aus Sicht des Betroffenen schwer. Und nur auf dessen Perspektive kann es ankommen.

Zur Kritik reizt aber auch, was das LSG gleichsam im Nebensatz erwähnt hat: es sei nicht ersichtlich, dass Rückenschmerzen und eine beschwerdeträchtige Hodenprothese allein durch Cannabis behandelt werden müssten. Darauf kann es indessen nicht entscheidend ankommen.

Versicherte haben gemäß § 31 Absatz 1 Satz 1 SGB V Anspruch auf Versorgung mit apothekenpflichtigen Arzneimitteln, soweit die Arzneimittel nicht nach § 34 SGB V oder durch Richtlinien nach § 92 Abs. 1 Satz 2 Nr. 6 SGB V ausgeschlossen sind. Cannabisblüten sind in Deutschland seit 2017 verkehrs- und verschreibungsfähig. Es ist also nicht ersichtlich, warum für das LSG es für streitentscheidend hält, dass noch andere Medikamente möglich wären.

Möglicherweise liegt es daran, dass das LSG den gesetzgeberischen Willen nur bedingt zur Kenntnis nimmt.

In der Begründung zum Regierungsentwurf wurde klargestellt, dass die Entscheidung, ob die Patientin oder der Patient etwa mit Cannabisarzneimitteln in Form von getrockneten Blüten oder Extrakten angemessen behandelt werden kann, der Ärztin oder dem Arzt nach strikter Indikation obliegt.

§ 31 Absatz 6 SGB V regelt,

  1. eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung

            a) nicht zur Verfügung steht oder

b) im Einzelfall nach der begründeten Einschätzung der behandelnden Vertragsärztin oder des behandelnden Vertragsarztes unter Abwägung der zu erwartenden Nebenwirkungen und unter Berücksichtigung des Krankheitszustandes der oder des Versicherten nicht zur Anwendung kommen kann,

Insoweit ist in rechtlicher Hinsicht für alle übrigen verschreibungsfähigen Betäubungsmittel gemäß § 13 Absatz 1 Satz 1 und 2 BtMG Voraussetzung, dass die Verschreibung von in Anlage III BtMG bezeichneten Betäubungsmitteln nur erlaubt ist, wenn die Ärztin oder der Arzt aufgrund eigener Prüfung zu der Überzeugung gelangt, dass nach den anerkannten Regeln der medizinischen Wissenschaft die Anwendung zulässig und geboten ist.

Genau das müsste das Gericht im Zweifel hinsichtlich des Verfügungsanspruchs prüfen. Diesbezüglich hatte im vorliegenden Fall sogar der MDK zunächst festgestellt, dass die sozialmedizinischen Voraussetzungen für die Versorgung mit Cannabis erfüllt seien. Auch die behandelnden Ärzte waren offensichtlich der Auffassung, dass Cannabis nunmehr angezeigt sei.

Die uns vorliegenden Informationen reichen nicht aus, um den Sachverhalt gemessen an den oben genannten Voraussetzungen wirklich zu überprüfen. Der Hinweis des LSG, es würde gegen den Anspruch sprechen, dass nicht ersichtlich sei, dass die Beschwerden allein durch Cannabis behandelt werden könnten, halten wir indessen für nicht erheblich.

Entscheidend ist sowohl nach § 13 Absatz 1 Satz 1 und 2 BtMG als auch gemäß § 31 Absatz 6 SGB V, dass die behandelnden Ärzte die Anwendung für zulässig und geboten halten, weil eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung nicht zur Anwendung kommen kann und eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf oder auf schwerwiegende Symptome besteht.