Grundsatz: Bevor Sozialleistungen in Anspruch genommen werden können, muss man erst sein eigenes Vermögen zum Lebensunterhalt einsetzen. Hiervon ging offenkundig auch ein Jobcenter aus, vergaß aber, dass es bei der Berechnung des Anspruchs, Ausnahmen vom Grundsatz gibt.
Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 3.12.2020, Az: L 6 AS 1651/17
Grundsätzlich werden bei der Berechnung von SGB II-Leistungen auch Vermögen und Einkommen angerechnet. Es gibt aber auch Einkünfte/Vermögen, die bei der Anspruchsberechnung nicht mit einbezogen werden dürfen. Denn eine Rente, so das Landessozialgericht (LSG), die eine Entschädigung und nicht für das Bestreiten des Lebensunterhalts bestimmt ist, darf das Jobcenter nicht berücksichtigen. In dem vom LSG entschiedenen Fall bezog die Klägerin eine Conterganrente.
Jobcenter lehnt Antrag auf höhere Leistungen ab
Die Klägerin, die Bezieherin einer Rente nach dem“ Gesetz über die Conterganstiftung für behinderte Menschen“ bezieht, bewohnt eine aus den Rentenmitteln erworbene Eigentumswohnung mit 119 m². Für die Zeit von Dezember 2012 bis November 2013 gewährte das Jobcenter darlehensweise SGB II-Leistungen. Die Klägerin verlangte höhere Leistungen und zwar als Zuschuss, nicht als Darlehen.
Anspruch auf Mehrbedarf
Das LSG bestätigte die Entscheidung des Kölner Sozialgerichts und wies die Berufung des Jobcenters zurück. Der Klägerin, so das Berufungsgericht, stehe unter anderem ein Mehrbedarf für ihre erhöhten Stromkosten zu, da sie diesen nicht aus eigenen Mitteln decken müsse. Auch würden die erheblichen monatlichen Zahlungen aus der Conterganrente nichts an ihrem Anspruch ändern. Diese dürften nicht angerechnet werden, so das Gericht.
Conterganrente hat eine Entschädigungsfunktion
Da der Conterganrente im Wesentlichen eine Entschädigungsfunktion zukomme, sei diese nicht für den Lebensunterhaltes bestimmt. Denn durch diese Rente sollten vorrangig entgangene Lebensmöglichkeiten ausgeglichen werden. Sie müsse daher auch nicht zur Deckung existenzsichernder Mehrbedarfe eingesetzt werden.
Eigentumswohnung muss nicht eingesetzt werden
Auch ihre Eigentumswohnung müsse die Klägerin, entgegen der Auffassung des Beklagten, nicht einsetzen, da die Verwertung der Immobilie eine besondere Härte für sie darstellen würde. Der Beklagte würde von ihr ein Sonderopfer verlangen, das weit über das hinausgehe, welches die Verwertung einer Immobilie ohnehin bedeute.
Die Behauptung der Beklagten, dass die Klägerin keinen konkreten Nachweis dafür vorgelegt habe, dass die Wohnung aus Mitteln der Conterganrente angeschafft worden sei, konnte diese im Verfahren widerlegen, da ihr der Nachweis gelang, dass die Eigentumswohnung – zumindest in großen Teilen – aus Mitteln der Conterganrente erworben wurde.
Revision zugelassen
Das LSG hat die Revision zugelassen. Sollte das Jobcenter die Entscheidung des Berufungsgerichts nicht akzeptieren und das Bundessozialgericht anrufen, so werden wir über den weiteren Verlauf des Verfahrens berichten.
Hier geht es zur Entscheidung des LSG NRW vom 3.12.2020:
4. Juni 2021 23:12BeitragsformatBildGalerieLinkStandardVideoO
https://www.justiz.nrw.de/nrwe/sgs/lsg_nrw/j2020/L_6_AS_1651_17_Urteil_20201203.html
Für Interessierte:
Der „Contergan-Skandal“: eine Tragödie und ihre Geschichte
Der „Contergan-Skandal“: eine Tragödie und ihre Geschichte
Hier geht es zum „Gesetz über die Conterganstiftung für behinderte Menschen (Conterganstiftungsgesetz“ (ContStifG):
https://www.gesetze-im-internet.de/contstifg/BJNR296700005.html