Die betriebliche Mitbestimmung verliert in Deutschland an Boden. Zugleich steht sie in der Zeit von Globalisierung und Digitalisierung vor großen Herausforderungen. Die Probleme will die Bundesregierung mit dem Betriebsrätemodernisierungsgesetz in den Griff bekommen. Das Gesetz geht in die richtige Richtung, jedoch längst nicht weit genug.
In Betrieben mit in der Regel mindestens fünf ständigen wahlberechtigten Arbeitnehmern, von denen drei wählbar sind, werden Betriebsräte gewählt. So eindeutig steht es in § 1 Absatz 1 Satz 1 Betriebsverfassungsgesetz (BetrVG). Das Gesetz sieht also vor, dass der Betrieb mit Betriebsrat der Normalfall ist. Nicht können, dürfen oder sollen steht im Gesetz, sondern: es wird gewählt. Punkt.
Tatsächlich wird der Betrieb mit Betriebsrat immer mehr zu einem Sonderfall in unserem Land. Die betriebliche Mitbestimmung verliert an Boden, stellte das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Bundesagentur für Arbeit (IAB) bereits 2018 fest.
Der Anteil der Betriebe mit Betriebsrat betrug im Jahr 2000 im Westen wie im Osten noch 12 Prozent. Bis 2017 sank er auf 9 Prozent. Die insgesamt niedrigen Anteilswerte werden von der großen Zahl der Kleinbetriebe geprägt, in denen die Existenz eines Betriebsrats eher die Ausnahme ist. Berücksichtigt hat das IAB aber nur Betriebe, in denen in der Regel mehr als fünf Beschäftigte tätig sind.
Nur noch 41 Prozent der Arbeitnehmer*innen in Westdeutschland und 36 Prozent in Ostdeutschland werden von Betriebsräten vertreten
Relativ gut sieht es noch aus bei Betrieben mit einer Belegschaftsstärke von über 500. Aber auch hier ist der Anteil in den letzten Jahren deutlich gesunken. Viele Jahre lang lag der Anteil bei den Großbetrieben bei 90 Prozent. In den letzten Jahren ist er auf 85 Prozent zurückgegangen.
Den größten Rückgang gab es bei den mittleren Betrieben (51 bis 500 Beschäftigte). Hier sank der Anteil zwischen 2000 und 2017 von 67 auf 53 Prozent im Westen und von 63 auf 48 Prozent im Osten.
Insgesamt werden nur noch rund 41 Prozent der Arbeitnehmer*innen in Westdeutschland sowie 36 Prozent in Ostdeutschland von Betriebsräten vertreten. Flankiert wird dieser bedrückende Befund vom Rückgang der Tarifbindung. Nur eine Minderheit der in der Privatwirtschaft tätigen Arbeitnehmer*innen arbeitet in Betrieben, die sowohl einen Betriebsrat haben als auch einem Branchentarifvertrag angehören, und zwar nur knapp ein Viertel (24 Prozent) der Beschäftigten in Westdeutschland und gerade noch ein Siebtel (14 Prozent) in Ostdeutschland.
Die Reform des Betriebsverfassungsgesetzes im Jahr 2001 brachte nicht den gewünschten Erfolg
Der Gesetzgeber hatte 2001 mit einer Reform des BetrVG versucht, die betriebliche Mitbestimmung insbesondere in Kleinbetrieben ab fünf Beschäftigten zu stärken. Er hatte ein vereinfachtes Wahlverfahren für Betriebe mit 5 bis 50 Arbeitnehmerinnen in das Gesetz aufgenommen. Für Betriebe mit 51 bis 100 Beschäftigten kann das vereinfachte Wahlverfahren zwischen den Tarifparteien vereinbart werden.
Die Erwartungen, die der Gesetzgeber in diese Reform gesetzt hatte, haben sich indessen nicht erfüllt, wie der Bericht des IAB von 2018 deutlich gezeigt hat. Hinzu kommt, dass Arbeitgeber es den Beschäftigten häufig nicht leicht machen einen Betriebsrat neu zu wählen. Eine Befragung des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung hat Hinweise darauf geliefert, dass Arbeitgeber schätzungsweise jede sechste Neugründung von Betriebsräten behindern, obwohl das ein Straftatbestand ist.
Besonders mittelgroße eigentümergeführte Unternehmen wehren sich gegen die Bildung von Betriebsräten
Arbeitgeber schüchtern Kandidaten ein, drohen mit Kündigung oder verhindern, dass die Beschäftigten überhaupt einen Wahlvorstand bestellen können. Besonders verbreitet sei Druck in mittelgroßen eigentümergeführten Unternehmen, so das WSI. In rund einem Drittel der Fälle, in denen sich der Arbeitgeber der erstmaligen Wahl eines Betriebsrats entgegenstellten, fänden diese am Ende nicht statt.
Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) hat eine Gesetzesinitiative gestartet mit dem Ziel, Betriebsräte zu stärken und ihre Gründung zu erleichtern. Im Dezember 2020 hat er den Referentenentwurf eines „Betriebsrätestärkungsgesetzes“ vorgelegt. Kern des Entwurfs war, das vereinfachte Wahlverfahren ausweiten. Zudem wollte der Minister den Kündigungsschutz von Arbeitnehmer*innen stärken, die eine Betriebsratswahl vorbereiten. Außerdem sollte es den Betriebsräten leichter ermöglicht werden, Sachverständige hinzuzuziehen, wenn IT-Themen verhandelt werden.
Indessen zeigte sich, dass der Koalitionspartner hier mauerte. Ganz offensichtlich waren die Unionsparteien nicht der Auffassung, dass die betriebliche Mitbestimmung gestärkt werden müsste. Und das, obwohl der Vorschlag des Arbeitsministers ohnehin hinter den Erwartungen der Gewerkschaften zurückblieb. Immerhin stammt das geltende BetrVG aus dem Jahr 1972, also aus einer Zeit, als Digitalisierung und Transformation der Industrie noch in weiter Ferne war und die Globalisierung bei Weitem noch nicht den heutigen Stand hatte.
Der Bundesarbeitsminister legt im März einen Gesetzesentwurf vor
Hubertus Heil hat im März 2021 den Entwurf eines „Betriebsrätemodernisierungsgesetzes“ vorgelegt. Das Gesetz verabschiedete der Deutsche Bundestag am 21. Mai 2021. Am 28. Mai 2021 hat es den Bundesrat passiert.
Die Schwellenwerte für die Anwendung des verpflichtenden vereinfachten Wahlverfahrens und des vereinfachten Wahlverfahrens nach Vereinbarung werden angehoben. In Betriebe mit 5 bis 100 Arbeitnehmerinnen findet jetzt das vereinfachte Wahlverfahren statt. Für Betriebe mit 101 bis 200 Beschäftigten kann das vereinfachte Wahlverfahren zwischen den Tarifparteien vereinbart werden.
Um künftig mehr Beschäftigte zu motivieren, sich zur Wahl für den Betriebsrat zu stellen, wird die Zahl der notwendigen Stützunterschriften für einen Wahlvorschlag gesenkt. In Betrieben mit in der Regel bis zu 20 wahlberechtigten Arbeitnehmern bedarf es in Zukunft keiner Unterzeichnung von Wahlvorschlägen.
Es wird schwieriger, Betriebsratswahlen wegen Fehlern in der Wählerliste anzufechten
Wahlvorschläge sind dann in Betrieben mit in der Regel 21 bis 100 wahlberechtigten Arbeitnehmern von mindestens zwei wahlberechtigten Arbeitnehmern und in Betrieben mit in der Regel mehr als 100 wahlberechtigten Arbeitnehmern von mindestens einem Zwanzigstel der wahlberechtigten Arbeitnehmer zu unterzeichnen. In jedem Fall genügt die Unterzeichnung durch 50 wahlberechtigte Arbeitnehmer.
Es wird in Zukunft schwieriger sein, Betriebsratswahlen wegen Fehlern in der Wählerliste anzufechten. Soweit die Anfechtung darauf gestützt wird, muss zuvor aus demselben Grund ordnungsgemäß Einspruch gegen die Richtigkeit der Wählerliste eingelegt worden sein. Ist die Liste nicht richtig, weil der Arbeitgeber falsche Angaben gemacht hatte, kann dieser nicht mehr aus diesem Grund die Wahl anfechten.
Der Kündigungsschutz zur Sicherung der Wahlen zum Betriebsrat und zur Bordvertretung wird verbessert. In der Regel beginnen Arbeitnehmer*innen schon deutlich vor der Einladung zur Wahlversammlung mit Vorbereitungshandlungen für die Betriebsratswahl. Diese „Vorfeld-Initiatoren“ hatten bislang keinen besonderen Schutz gegen ordentliche Kündigungen.
Der Gesetzgeber will „Vorfeld-Initiatoren“ besser vor Kündigungen schützen
Arbeitgeber können Beschäftigte, die einen Betriebsrat errichten wollen, nach der Änderung durch das Betriebsrätemodernisierungsgesetz nicht mehr ordentlich aus Gründen kündigen, die in der Person oder in dem Verhalten des Arbeitnehmers liegen. Voraussetzung ist allerdings, dass die Initiatoren insoweit eine öffentlich beglaubigte Erklärung abgegeben haben. Der Kündigungsschutz gilt von der Abgabe dieser Erklärung bis zum Zeitpunkt der Einladung zu einer Betriebs-, Wahl- oder Bordversammlung, längstens jedoch für drei Monate.
Bislang galt der Kündigungsschutz für diejenigen, die er zu einer Betriebs-, Wahl- oder Bordversammlung einladen, für die ersten drei in der Einladung oder Antragstellung aufgeführten Arbeitnehmer. Zukünftig wird das für die ersten sechs Arbeitnehmer*innen auf der Liste der Einladenden gelten. Bei dem Antragsteller*innen bleibt es bei drei.
Es hatte sich nämlich gezeigt, dass die drei Einladenden häufig auch den aus drei Personen bestehenden Wahlvorstand stellen. Fällt aber eine der drei Personen etwa wegen Krankheit aus oder wird eingeschüchtert, besteht die Gefahr, dass die Betriebsratswahl zunächst nicht erfolgreich durchgeführt werden kann, da nicht die erforderliche Anzahl an Wahlvorstandsmitgliedern vorhanden ist, wie die Bundesregierung in der Begründung zu ihrem Entwurf schreibt.
Die Gewerkschaften weisen darauf hin, dass der jetzt angedachte Kündigungsschutz dem gesetzgeberischen Ziel nicht gerecht wird
Der Kündigungsschutz geht indessen dem DGB und seinen Mitgliedsgewerkschaften nicht weit genug. Zwar begrüßen die Gewerkschaften das Ziel, die Betriebsratswahlen zu erleichtern, indem schon Vorfeldinitiator*innen besonderen Kündigungsschutz genießen. Allerdings weisen sie darauf hin, dass das Gesetz weit hinter dem ursprünglich geplanten umfassenden Kündigungsschutz zurückbleibt und dem gesetzgeberische Ziel, Betriebsratswahlen zu erleichtern, wohl nicht gerecht wird.
Kritisch sehen sie u.a., dass der Initiator*innen – anders als die Einladenden – nicht auch vor betriebsbedingten Kündigungen geschützt sind. Zudem müsste aus Sicht des DGB der zweistufige (kündigungsschutz- und betriebsverfassungsrechtlich) und nachwirkende Kündigungsschutz auch auf die Kandidierenden zum Wahlvorstand ausgeweitet werden.
Viele Änderungen des Betriebsverfassungsgesetzes betreffen Digitalisierung und künstliche Intelligenz
Die weiteren Änderungen im Gesetz kurz zusammengefasst:
- Die Altersgrenze bei der Wahl der Jugend- und Auszubildendenvertretung wird gestrichen. Es kommt künftig nur noch auf den Status als Auszubildender an.
- Betriebsräte erhalten die Möglichkeit, Sitzungen mittels Video- und Telefonkonferenz durchzuführen. Die Rahmenbedingungen dafür setzen sie selbst. Allerdings soll der „Vorrang von Präsenzsitzungen“ gewahrt bleiben.
- Betriebsvereinbarungen können auch unter Nutzung einer qualifizierten elektronischen Signatur abgeschlossen werden.
- Die datenschutzrechtliche Verantwortlichkeit nach der Datenschutz-Grundverordnung bei der Verarbeitung personenbezogener Daten durch den Betriebsrat wird gesetzlich klargestellt.
- Im BetrVG wird ein neues Mitbestimmungsrecht bei der Ausgestaltung mobiler Arbeit eingeführt.
- das allgemeine Initiativrecht der Betriebsräte bei der Berufsbildung wird durch die Möglichkeit der Einschaltung der Einigungsstelle zur Vermittlung gestärkt.
- Zur Bewertung von künstlicher Intelligenz kann der Betriebsrat künftig einen/eine Sachverständige*n hinzuziehen.
- Die Rechte des Betriebsrats bei der Planung von Arbeitsverfahren und -abläufen gelten auch dann, wenn diese Richtlinien ausschließlich oder mit Unterstützung von KI erstellt werden.
- Dasselbe gilt auch bei der Feststellung von Richtlinien über die personelle Auswahl, wenn diese Richtlinien ausschließlich oder mit Unterstützung von KI erstellt werden.
Das Betriebsrätemodernisierungsgesetz ist zu begrüßen, geht jedoch nicht weit genug
Der Referentenentwurf hieß noch „Betriebsrätestärkungsgesetz“. Der neue Name weist darauf hin, dass es offensichtlich um eines nicht mehr geht: die Stärkung der Betriebsräte und deren Arbeit.
Sicherlich ist begrüßenswert, dass jetzt auch die „Vorfeld-Initiatoren“ gegen ordentliche personen- und verhaltensbedingte Kündigungen geschützt werden. Das stellt aber nur eine Maßnahme dar, die dazu dient, den gesetzmäßigen Zustand überhaupt herzustellen. Das BVerfG geht davon aus, dass Betriebsräte außer in ganz kleinen Betrieben gewählt werden. Bislang war es für Inhaber von Betrieben ohne Betriebsrat relativ einfach, Initiatoren abzuschrecken. Dem wirkt der jetzt geregelte Kündigungsschutz ein wenig entgegen.
Der DGB und seine Mitgliedsgewerkschaften begrüßen, dass sich die Gestaltungsmöglichkeiten der Betriebsräte beim Einsatz von KI durch die Hinzuziehung externen Sachverstands zur Unterstützung der Betriebsräte verbessern. Gleichzeitig muss nach Auffassung des DGB die Mitbestimmung weiterentwickelt werden. Insoweit ist jetzt lediglich ein kleiner Schritt vollzogen.
Das Anliegen, die betriebliche Mitbestimmung, aber auch Unternehmensmitbestimmung auszuweiten und zu entwickeln, verfolgen der DGB und seine Mitgliedsgewerkschaften unabhängig vom Betriebsrätemodernisierungsgesetz und sehen den Gesetzgeber in der Pflicht, die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass die Rahmenbedingungen für eine zukunftsfähige, die Demokratie stärkende Mitbestimmung geschaffen werden.
Hier geht es zum Gesetzentwurf:
Hier geht es zur Stellungnahme des Deutschen Gewerkschaftsbundes: