Man ist nicht zum Heimwechsel gezwungen, wenn man behinderter Mensch ist

Es gibt keine Pflicht eines behinderten Menschen, einen Antrag auf Eingliederungshilfe zu stellen. Das Grundgesetz und die Behindertenrechtskonvention der UNO orientieren sich an der Würde des Menschen. Dessen Autonomie, Eigenverantwortung und Selbstbestimmung muss der Staat anerkennen. Dazu gehört auch, die individuelle Entscheidung zu achten und zu respektieren, auf Hilfe zu verzichten.

Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 3. Mai 2021 – L 8 SO 47/21 B ER

Der 52-jährige Lukas Rocker (Name von der Redaktion geändert) ist schwerbehinderter Mensch mit einem Grad von 80. Er leidet u.a. an starkem Übergewicht, Diabetes mellitus Typ2, Inkontinenz, Vorhofflimmern und eine rezidivierende depressive Störung.

Herr Rocker ist alleinstehend, pflegebedürftig (Pflegegrad 4) und lebt in einem Heim im Harz. Sein Einkommen reicht nicht aus, um die Heimkosten zu decken. Diese übernahm zunächst das zuständige Sozialamt des Ennepe-Ruhr-Kreises.

Im Oktober 2020 teilte das Amt Herrn Rocker mit, dass eine Betreuung in einer Einrichtung für Menschen mit Behinderung bei seinen Einschränkungen geeigneter sei. Die derzeitige Unterstützung stellte das Sozialamt ein. Herr Rocker solle stattdessen einen Antrag bei dem für Eingliederungshilfe zuständigen Landschaftsverband Westfalen-Lippe stellen, so meint das Sozialamt Ennepe-Ruhr.

Herr Rocker will in „seinem“ Pflegeheim bleiben

Der Mann fühlt sich indessen in der bisherigen Einrichtung gut versorgt und lehnt einen Wechsel ab. Er befürchtet, dass er in einer anderen Einrichtung nicht ausreichend pflegerisch versorgt wird und sich seine angegriffene Psyche verschlechtert. Mehrfach hat er schon Essen und Untersuchungen verweigert, weil er sich überfordert fühlt. Wenn das Amt die Unterstützung einstellt, droht die Kündigung des Pflegeheimplatzes.

Das Amt verlängerte die Hilfe bis zum 31. Dezember2020, um Herrn Rocker zu ermöglichen, in eine Einrichtung der Eingliederungshilfe umzuziehen. Gegen die „Ablehnung der Heimnotwendigkeit“ erhob Herr Rocker mit der Begründung Widerspruch, der weitere Aufenthalt im bisherigen Heim sei wegen seiner stark ausgeprägten Pflegebedürftigkeit erforderlich.

Sozialgericht: eine Räumungsklage ist nicht zu befürchten

Im Februar 2021 waren etwa 1.500,00 € an rückständigen Heimkosten aufgelaufen. Zudem gab es einen Rückstand bei der Kranken- und Pflegekasse von etwa 100,00 €. Darüber hinaus fehlten dem Mann Mittel für Medikamentenzuzahlungen. Deshalb hatte er beim Sozialgericht Braunschweig einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gestellt. Diesen Antrag hat das SG mit Beschluss vom 25. März 2021 abgelehnt.

Für den Erlass einer einstweiligen Anordnung fehle es nach Auffassung des Gerichtes an der besonderen Eilbedürftigkeit der Sache (Anordnungsgrund), weil eine Räumungsklage seitens des Heimträgers in absehbarer Zeit nicht zu befürchten sei.

Herr Rocker habe aber auch keinen Verfügungsanspruch, unter anderem weil für ihn -schon seit Monaten -eine zumutbare Selbsthilfemöglichkeit in Gestalt der Obliegenheit bestehe, bei dem zuständigen Landschaftsverband Westfalen-Lippe einen Antrag auf Eingliederungshilfe zu stellen.

LSG: bei fortlaufend nicht gedeckten Heimkosten ist Kündigung des Heimträgers zu erwarten

Gegen diesen Beschluss hat Lukas Rocker Beschwerde beim Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen (LSG) eingelegt. Über diese Beschwerde hat das LSG jetzt entschieden. Es hat das Sozialamt vorläufig zur weiteren Übernahme der Heimkosten verpflichtet.

Herr Rocker habe die besondere Eilbedürftigkeit der Sache glaubhaft gemacht, so der achte Senat des LSG, weil bei fortlaufend nicht gedeckten Heimkosten von über 1.500,00 € eine Beendigung des Heimvertrages durch Kündigung des Heimträgers zu erwarten sei. Es käme in diesem Einzelfall nicht darauf an, dass bereits eine Kündigung ausgesprochen worden sei. Nach Lage der Dinge möchte das Amt durch die Ablehnung der Leistungen gerade erreichen, dass Herr Rocker einen Antrag auf Eingliederungshilfe stelle, damit nicht mehr das Sozialamt des Ennepe-Ruhr-Kreises, sondern der Landschaftsverband Westfalen-Lippe für die Kosten aufkommen müsse.

Artikel 1 Grundgesetz: die Würde des Menschen ist unantastbar

Herr Rocker hat nach Auffassung des LSG aber auch einen Verfügungsanspruch. Für das Recht auf Eingliederungshilfe sei die Wahrung von Menschenwürde und Selbstbestimmung von wesentlicher Bedeutung. Man müsse respektieren, wenn sich ein behinderter Mensch dagegen entscheide, dass er Leistungen der Eingliederungshilfe wahrnehmen möchte.

Autonomie, Eigenverantwortung und Selbstbestimmung behinderter Menschen seien vorrangig vor vermeintlich besseren Hilfsangeboten. Da der Pflegebedarf des Mannes in dem derzeit bewohnten Heim gedeckt werde, habe er weiterhin Anspruch auf Übernahme der ungedeckten Heimkosten. Mit der Verweigerung der bisherigen Unterstützung habe das Sozialamt unzulässig Druck ausgeübt.

Hier geht es zum Beschluss des LSG Niedersachsen:

Das meinen wir dazu:

Die Entscheidung des LSG ist sehr zu begrüßen. Der behinderte Mensch hat Anspruch auf Teilhabe am Leben in der Gesellschaft. In welcher Weise bestimmt er grundsätzlich selbst. Glücklicherweise ist der alte Fürsorgegedanke im Schwerbehindertenrecht nicht mehr aktuell. Die Würde des Menschen ist ein Grundrecht, das als tragendendes Konstitutionsprinzip alle anderen Grundrechte gleichsam beherrscht, wie das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) bereits in seinem „Elfes-Urteil“ von 1957 betont hat. Es gilt ewig und darf nicht angetastet oder relativiert werden.

Das BVerfG betont regelmäßig, dass aufgrund seiner Würde ein Mensch nicht vom handelnden Subjekt zu einem passiven Objekt degradiert werden darf. Aber genau das geschieht mit einem Menschen, dem man Fürsorge angedeihen lässt.

Würde besitzt jeder, ohne Rücksicht auf seine Eigenschaften, seine Leistungen und seinen sozialen Status. Sie ist nach unserem Rechtsverständnis auch dem eigen, der aufgrund seines körperlichen oder geistigen Zustands nicht sinnhaft handeln kann. Selbst durch „unwürdiges“ Verhalten geht sie nicht verloren.

Weil jeder Mensch Würde besitzt, hat sich auch der alte Gedanke überlebt, dass Menschen deshalb behindert sind, weil sie einen besonderen Hilfebedarf haben. Behinderte sind vielmehr Menschen, denen man lange Zeit Steine in Form von gesellschaftlichen Barrieren in den Weg gelegt hat. In unserem Wahn, Normen zu bestimmen, die sich an eine Art „Durchschnittsmenschen“ orientieren, schließen wir Menschen von der selbstbestimmten Teilhabe aus. Behinderung ist also etwas, was im gesellschaftlichen Kontext entsteht und keine besondere Eigenschaft des behinderten Menschen.

Zur Vertiefung empfehlen wir unseren Artikel „Behindert ist man nicht, behindert wird man“.

Ein Mensch, der durch diese gesellschaftliche Kontextfaktoren an seiner Teilhabe am Leben in der Gesellschaft behindert wird, verliert dadurch nicht seine Eigenschaft als handelndes Subjekt. Wer ihn nötigt, wegen seiner Behinderung Hilfsangebote in Anspruch zu nehmen macht aus ihm ein Objekt, das nicht selbst handelt, sondern mit dem man etwas macht.