Seit April 2021 müssen wir im Öffentlichen Nah- und Fernverkehr FFP2-Masken tragen, die deutlich teurer sind als einfache OP-Masken. Das Landessozialgericht NRW meint, dass deshalb kein unabwendbarer besonderer Bedarf entsteht. Empfänger von Arbeitslosengeld II könnten den Bedarf durch Einsparungen decken. Die Rechtsprechung ist hierzu jedoch nicht einheitlich.
Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen, Entscheidung vom 6. Mai 2021 – L 21 AS 525/21 B ER
Der Gesetzgeber hat entschieden: am 23. April 2021 führte er in das Infektionsschutzgesetz die Vorschrift ein, dass Fahrgäste im öffentlichen Personennah- oder ‑fernverkehr sowohl während der Beförderung als auch während des Aufenthalts in einer zu dem jeweiligen Verkehr gehörenden Einrichtung eine Atemschutzmaske (FFP2 oder vergleichbar) tragen müssen (§ 28b Absatz 1 Ziffer 9 IfSG). Für Menschen, die gezwungen sind, ihren Lebensunterhalt mit Arbeitslosengeld II (Hartz IV) zu bestreiten, eine echte Herausforderung, wenn sie regelmäßig den ÖPNV nutzen. FFP2-Masken sind nämlich deutlich teurer als einfache OP-Masken.
Der Bedarf für FFP2-Masken ist nicht unabwendbar
Mark Sommer (Name von der Redaktion geändert), der mit seiner Familie von Hartz IV leben muss, beantragte vom Jobcenter die Gewährung eines Mehrbedarfs. Er wollte wöchentlich 20 FFP2-Masken, hilfsweise einen Barbetrag von monatlich 129,00 Euro pro Person. Seinen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung lehnte das Sozialgericht (SG) Düsseldorf ab. Das Landessozialgericht (LSG) Nordrhein-Westfalen hat seine Beschwerde gegen die Entscheidung jetzt zurückgewiesen.
Der Mehrbedarf für FFP2-Masken sei zwar ein besonderer Bedarf. Jedoch sei er nicht unabweisbar, wie § 21 Abs. 6 SGB II es fordert. Familie Sommer könne ihren Bedarf decken, wenn sie ihre Einsparmöglichkeiten nutzten. Zunächst müsse man berücksichtigen, dass jeder nicht 20 Masken im Monat benötigen würde. Zudem habe Herr Sommer auch einen zu hohen Preis für eine Maske angenommen.
Es entstehen höchstens Aufwendungen von 10,00 Euro pro Monat und Person
Man könne davon ausgehen, dass eine Person höchstens zehn Masken im Monat benötigen würde. Diese könnten nach wissenschaftlicher Auffassung bei sachgerechter Handhabung, Lagerung und Trocknung nämlich mehrfach verwendet werden. Anders als noch zu Pandemiebeginn könne man eine Maske heute für einen Euro oder weniger erwerben. Pro Person verursachten die Masken allenfalls einen finanziellen Aufwand von maximal zehn Euro pro Monat und Person.
Dieser Bedarf könne durch Einsparungen gedeckt werden, da einige der im Regelbedarf enthaltenen Bedarfspositionen wegen der allgemeinen Maßnahmen zur Eindämmung des Coronavirus nur teilweise anfielen.
Für die Position „Verkehr“ seien 39,01 Euro und für „Freizeit, Unterhaltung und Kultur“ 42,44 Euro im Regelbedarf berücksichtigt. Insbesondere während des Lockdowns könnten Hartz-IV-Empfänger für diese Positionen gar nicht so viel ausgeben.
Die Sozialgerichte entscheiden insoweit aber nicht einheitlich. So hat das Sozialgericht Karlsruhe im Februar 2021 dem Eilantrag eines Arbeitsuchenden auf Gewährung eines im Epidemie-bedingten Einzelfall unabweisbaren Hygienebedarfs an FFP2-Masken bis zum Sommeranfang am 21.06.2021 stattgegeben.
Hier geht es zur Pressemitteilung des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen:
Das meinen wir dazu:
Auf dem ersten Blick ist die Entscheidung plausibel. Der Antragsteller hat deutlich überzogen, was die Kosten für FFP2-Masken angeht. Ein Betrag von 10 Euro vom Regelbedarf für Masken zu verwenden, erscheint nicht unzumutbar.
Das Problem ist indessen doch etwas komplexer als das LSG meint. Das Gericht geht davon aus, dass der Antragsteller ja Kosten sparen würde, weil er wegen Corona weniger reisen könne und weniger für kulturelle Veranstaltungen ausgebe. Man kommt nicht umhin, diese Auffassung als zynisch anzusehen. Wer Einblick in den Alltag von Empfängern von Transferleistungen hat, hat eher selten den Eindruck, dass Urlaubsreisen oder Kulturprogramme eine große Rolle spielen können.
Der Regelbedarf, der bei der Berechnung des Arbeitslosengeldes II berücksichtigt wird, ist knapp und kein Empfänger wird genau beachten können, wie viel er genau täglich für welche „Position“ ausgibt. Für Kinder vom Beginn des siebten bis zur Vollendung des 14. Lebensjahres berücksichtigt der Regelbedarf etwa 1,56 Euro im Monat für Bildung. Hat das LSG etwa im Blick gehabt, dass gerade beim „Homeschooling“ höhere Kosten anfallen?
Für Nahrungsmittel, Getränke und Tabakwaren sind bei einem Erwachsenen 150,93 Euro vorgesehen. Das sind täglich etwa 5,00 Euro. Eine Schachtel Zigaretten kostet bereits 7,00 Euro. Bei 500 Gramm Schwarzbrot ist man mit 2,00 bis 3,00 Euro dabei. Eine Salatgurke kostet in der Saison 1,00 Euro, außerhalb erheblich mehr. Hat das LSG Überlegungen zum Verbrauch von Zigaretten, Schwarzbrot und Salatgurken während der Pandemie angestrengt?
Was sagt uns das?
Es gab früher junge Frauen, die in den Meiereien dafür zuständig waren, Butter herzustellen und zu verkaufen. Es gibt eine Fabel von Jean de La Fontaine mit dem Titel „Die Milchfrau und die Milchkanne“, die diesen „Milchmädchen“ zu ewigen Ruhm verholfen hat. Die Protagonistin der Erzählung hatte diesen Beruf. Auf dem Weg zum Markt rechnete sie aus, wie viel Geld die Milch wohl einbringen werde. Das Problem war, dass sie dabei unachtsam war und die Milch verschüttete.
Seitdem heißen Rechnungen, die etwas naiv sind und bei denen wesentliche Aspekte nicht beachtet werden Milchmädchenrechnungen. Es gibt ja keine Milchmädchen mehr, deshalb diskriminieren wir auch niemanden, wenn uns diese Geschichte bei der Begründung des LSG einfällt.