Bis in die neunziger Jahre des vorigen Jahrhunderts galt „Behinderung“ als eine Einschränkung der Eingliederungsfähigkeit eines Menschen. Das ist Geschichte. Im Vordergrund steht nunmehr, behinderte Menschen vor Benachteiligen zu schützen und gesellschaftliche Barrieren zu beseitigen. Und dahinter steht die Erkenntnis, dass „Behinderung“ keine Eigenschaft eines betroffenen Menschen ist, sondern ein gesellschaftliches Problem. Und dass wir als Gesellschaft auf viele Talente nicht verzichten können, denen wir bisher Barrieren in den Weg gestellt haben.
Behinderung galt lange Zeit als medizinische Tatsache. Irgendetwas funktioniert bei einem Menschen „nicht richtig“. Weil ihm etwa ein Bein fehlt, kann er nicht an allem teilhaben, was ein „normaler“ Mensch so treibt. Das Bundessozialgericht hat dafür den Begriff „Funktionsbeeinträchtigung“ geprägt. Wegen dieser Beeinträchtigung sei der Betroffene gehindert, vollständig am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben. Er benötige deshalb Hilfen, durch die er in die Gesellschaft integriert werden könne.
Behinderung wird nicht mehr als Eigenschaftspotenzial aufgefasst, sondern als soziale Beziehung
Diese Sichtweise hatten Betroffene aber bereits seit langem kritisiert. Worin liegt eigentlich die Behinderung, wenn ich als Rollstuhlfahrer auf eine Treppe stoße und deshalb meinen Weg nicht fortsetzen kann? Bin ich die Behinderung oder die Treppe? Wenn ich nicht sehen und deshalb nicht als Rechtsanwalt arbeiten kann, liegt es an meiner „Funktionsbeeinträchtigung“ oder daran, dass mein Arbeitsplatz nicht ausreichend gestaltet ist?
Behinderung wird indessen nicht mehr als Eigenschaftspotenzial aufgefasst, sondern als soziale Beziehung. Sie entsteht aus definierten Aktivitäten von interagierenden Personen in sozialen Situationen. Dem trägt insbesondere auch die UN-Behindertenrechtskonvention vom 13.12.2006 (UN-BRK) Rechnung. Danach sind behinderte Menschen diejenigen, die langfristige körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, welche sie in Wechselwirkung mit verschiedenen Barrieren an der vollen wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft hindern können.
Nicht der Mensch ist behindert, die gesellschaftliche Wirklichkeit behindert ihn
Seit dem 1. Januar 2018 definiert auch § 2 des neunten Sozialgesetzbuches (SGB IX) Behinderung genau so. Eingefügt hat der Gesetzgeber die neue Definition durch das Bundesteilhabegesetz (BTHG). Mit diesem Gesetz ändern sich viele Vorschriften. Und es stellt auch einen Paradigmenwechsel dar. Die Erkenntnis ist: Nicht der Mensch ist behindert, die gesellschaftliche Wirklichkeit behindert ihn. Es ist nicht mehr der behinderte Mensch, der in die Gesellschaft integriert werden muss.
Die Gesellschaft besteht vielmehr auch aus Menschen, die nicht sehen können, denen Gliedmaße fehlen oder die psychisch beeinträchtigt sind. Aus Integration wird Inklusion. Nicht der Mensch funktioniert nicht richtig und muss in die Gesellschaft eingegliedert werden. Die Gesellschaft darf nicht Menschen ausschließen, weil sie nicht einer Norm entsprechen, die die Gesellschaft selbst bestimmt.
Freilich geht es nicht darum, dass jeder alles machen kann. Ein Rollstuhlfahrer wird gar nicht auf die Idee kommen, etwa als Dachdecker zu arbeiten. Aber das werden viele andere Menschen auch nicht, die gar nicht das Talent dazu haben. Es geht aber um Barrieren, die gar nichts mit Talent und Neigung zu tun haben. Warum kann zum Beispiel eine Frau nicht Nachrichtensendungen moderieren, weil ihr die Nase fehlt oder sie Pickel im Gesicht hat?
Inklusion bedeutet, Menschen mit vielen Talenten und Fähigkeiten nicht mehr auszugrenzen
Warum soll jemand, der stottert nicht Lehrer werden können? Warum eine Blinde nicht Richterin?
Die Gesellschaft benötigt die unterschiedlichen Talente vieler Menschen. Inklusion ist deshalb keine Fürsorge, kein Almosen für Menschen mit Behinderung. Inklusion bedeutet, Menschen mit vielen Talenten und Fähigkeiten nicht mehr auszugrenzen, nur weil sie einer Norm nicht entsprechen, die die Gesellschaft selbst bestimmt. Durch Gesetze und Vorschriften. Durch Straßen und Bauten, die für „Leistungssportler“ geplant sind. Aber auch durch Vorurteile.
Das alles gilt es abzubauen. Aus Respekt vor der Würde aller Menschen. Aber auch, weil wir es uns nicht leisten können, auf die Teilhabe so vieler talentierter Menschen zu verzichten, indem wir sie ausgrenzen.
Leider hat noch längst nicht jeder in unserer Gesellschaft diesen Paradigmenwechsel mit vollzogen. Das gilt auch für viele Sozialgerichte. Regelmäßig weisen sie noch darauf hin, dass es auf Einschränkungen des Freizeitvergnügens oder der gefühlten Lebensqualität im Schwerbehindertenrecht überhaupt nicht ankäme, ebenso nicht auf Erschwernisse im Berufsalltag. Bewertet würden etwa nach Auffassung des SG Chemnitz im Schwerbehindertenrecht ausschließlich die objektiv feststellbaren Funktionseinschränkungen der Glieder oder Organe und deren funktionelle Auswirkungen.
Das Bundessozialgericht setzt immer noch bei den „Funktionsbeeinträchtigungen“ an
So ganz vollzogen hat selbst das Bundessozialgericht den Wechsel nicht. Zwar betont der dritte Senat des BSG etwa in einer Entscheidung von 2018 zutreffend, dass Behinderung nicht als ein fest definiertes Konzept zu verstehen sei, sondern sei vielmehr dynamisch und von den jeweiligen Wechselbeziehungen mit umweltbezogenen und personenbedingten Kontextfaktoren abhängig. Der Behinderungsbegriff entwickele sich somit fortlaufend weiter und passe sich an die jeweiligen gesellschaftlichen Entwicklungen an. Daher sei jeweils im konkreten Einzelfall zu prüfen, ob eine Beeinträchtigung der vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe vorliege.
Auf der anderen Seite will das BSG aber immer noch am Konzept der „Funktionsbeeinträchtigung“ festhalten. Offensichtlich sieht der 3. Senat nicht, dass dieses Konzept nicht mit dem Inklusionsmodell korrespondiert. Eine Kernaussage des Inklusionskonzeptes ist nämlich, dass es keine „normale“ Funktionsfähigkeit beim Menschen gibt.
Nach dem SGB IX stellt „die zuständige Behörde“ fest, ob ein Mensch behindert ist und welchen Grad der Behinderung er hat. Welche Behörde das ist, bestimmt seit Anfang 2020 das jeweilige Bundesland.
Der Feststellungsbescheid ist nur deklaratorisch
Die Behörde stellt also nur fest, sie legt nicht fest oder vergibt auch keinen Grad der Behinderung. Behindert ist ein Mensch also auch unabhängig davon, ob die Behörde überhaupt irgendetwas entschieden hat. Die Jurist*innen bezeichnen einen Feststellungsbescheid im Schwerbehindertenrecht deshalb als deklaratorisch. Er dient im Grunde nur dazu, die Behinderung und deren Grad nachzuweisen.
Chronische Krankheiten, die Grund für die Behinderung sind, stellt die Behörde gar nicht fest. Diese finden sich nur in der Begründung des Bescheides. Der Betroffene kann sich deshalb später auch nicht darauf berufen, dass die Behörde bestimmte Krankheiten festgestellt habe.
Es gibt auch nach dem Gesetz nicht mehrere Behinderungen, weil die Krankheiten selbst eben nicht die Behinderung sind. Die Behörde stellt vielmehr lediglich fest, dass aufgrund einer oder mehrerer Erkrankungen ein Mensch in seiner Teilhabe beeinträchtigt ist und in welchem Grade. Vereinfacht ausgedrückt lautet ein typischer Bescheid eines VA:
„Der Antragsteller ist behinderter Mensch. Der Grad der Behinderung beträgt 30.“
Die Versorgungsmedizinverordnung ist nur bedingt tauglich
Die Behörden und Gerichte legen für die Feststellung die Versorgungsmedizinverordnung (VMedVO) zu Grunde, eine Verordnung, die eigentlich für das Versorgungsrecht gemacht ist. Dementsprechend geht es im Anhang zu dieser Verordnung auch nicht um den Grad der Behinderung (GdB), sondern um den Grad der Schädigung (GdS), was etwas grundsätzlich anderes ist. Die VMedVO ist aber noch aus einem anderen Grund nur bedingt dafür tauglich, den GdB festzustellen. In einer Anlage stellt das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) sogenannte „Versorgungsmedizinische Grundsätze“ auf. Hier werden für viele Krankheiten und Befunde GdB-Werte angegeben, die auf Erfahrungen in der Medizin basieren. Dazu wird beim BMAS ein Beirat gebildet, in dem ausschließlich Ärzt*innen vertreten sind.
Nicht nur medizinisches Erfahrungswissen ist wichtig, um den GdB einzuschätzen
Jetzt ist medizinisches Erfahrungswissen sicherlich für die Feststellung eines Grades der Behinderung wichtig. Es ist aber mehr als problematisch, wenn ausschließlich Ärzte einschätzen, inwieweit sich körperliche, seelische oder geistige Beeinträchtigungen auf das Leben in der Gesellschaft auswirken. Dazu bedarf es eigentlich eines Kreises von Experten aus unterschiedliche Disziplinen. Sozialarbeiter etwa und Sozialwissenschaftler, aber auch Menschen, die in Behinderteneinrichtungen arbeiten und Vertrauensleute schwerbehinderter Menschen aus den Betrieben.
Auch die Sozialgerichte überprüfen Bescheide der Versorgungsämter hauptsächlich anhand der VMedVO. Das müssen sie auch machen, weil es ihre Aufgabe nun einmal ist, zu kontrollieren, ob die Versorgungsämter Recht und Gesetz richtig anwenden. Gefordert sind hier in erster Linie Gesetzgeber und Regierung, rechtliche Grundlagen dafür zu schaffen, dass das sozialpolitische Ziel auch erreicht wird, die Gesellschaft so zu gestalten, dass alle bei uns lebenden Menschen als ein Teil dieser Gesellschaft gelten
Das Ziel: keine Barrieren mehr für niemanden
Und dazu gehört zunächst einmal, dass festgestellt wird, wer aufgrund einer Beeinträchtigung an der vollständigen Teilhabe am Leben in der Gesellschaft in welchem Umfang gehindert wird. Das ist wichtig, weil daraus folgt, inwieweit Betroffenen Nachteilsausgleiche gewährt werden, damit Barrieren möglichst verschwinden. Ob und inwieweit Barrieren vorhanden sind, können aber nicht allein Ärzte feststellen.
Das weitergehende Ziel muss aber sein, dass es von vorneherein überhaupt keine Barrieren mehr gibt. Weder körperlich noch in Form von Rechtsvorschriften oder Vorurteilen. Eine Gesellschaft, die berücksichtigt, dass es einen „Normmenschen“ nicht gibt. Jetzt mag man einwenden, dass sei utopisch. Ziele bedeuten aber ja nicht notwendigerweise, dass genau vorherzusehen ist, wann und inwieweit sie zu erreichen sind. Ziele geben den Weg vor und bestimmen unser Handeln