Es gibt Menschen in unserem Land, die rund um die Uhr arbeiten und das für einen Hungerlohn. Pflegekräfte, insbesondere Frauen aus Osteuropa ziehen bei Pflegedürftigen in Deutschland ein und kümmern sich 24 Stunden am Tag um sie. Die Bundesregierung hat jetzt bestätigt, dass sie keine validen Daten darüber hat, wie viele Pflegekräfte derartig ausgebeutet werden.
Vor allem für ältere betreuungsbedürftige Menschen gibt es kaum eine andere Möglichkeit, als auf fragwürdige Angebote aus dem Internet zurückzugreifen. Agenturen bieten dort Pflegekräfte an, die beim pflegebedürftigen Menschen einziehen und ihn gleichsam rund um die Uhr betreuen. Dort gibt es Agenturen, die Frauen aus Osteuropa anwerben, die aus Mangel an beruflichen Alternativen der Armut in ihren Herkunftsländern zu entkommen versuchen.
Neben seriösen Anbietern gibt es solche, die die missliche Lage dieser Frauen schamlos ausnutzen. Es gibt zahlreiche Beispiele von Frauen aus Osteuropa, deren Arbeitszeit weit über die nach Europäischen Richtlinien vorgeschriebene Höchstarbeitszeit liegt. Besonders prekär ist die Situation der Frauen, die als sogenannte „Live Ins“ eine 24-stündige Betreuung übernehmen.
In Europa beträgt die Höchstarbeitszeit 48 Stunden in der Woche
Die Richtlinie 2003/88/EG schreibt für die Europäischen Union eine Höchstarbeitszeit von 48 Stunden in der Woche vor. In Deutschland ist die Richtlinie durch das Arbeitszeitgesetz umgesetzt worden. Zudem regelt das Mindestlohngesetz (MiLoG), was ein Arbeitgeber seinen Beschäftigten mindestens zahlen muss. Der Mindestlohn kann auf Vorschlag einer ständigen Kommission der Tarifpartner (Mindestlohnkommission) durch Rechtsverordnung der Bundesregierung geändert werden. Als das MiLoG in Kraft getreten ist, betrug der Mindestlohn € 8,50, aktuell beträgt er seit Januar 2021 € 9,50.
Im August 2020 hatte das Landesarbeitsgericht (LAG) Berlin-Brandenburg über den Fall einer 69-jährigen bulgarische Staatsbürgerin zu entscheiden, die ihren Wohnsitz auch in Bulgarien hatte. Dort hatte sie eine bulgarische Gesellschaft als Sozialassistentin eingestellt. Vereinbart wurde eine Arbeitszeit von sechs Stunden täglich und ein Stundenlohn von umgerechnet € 8,50.
Auch nachts musste die Sozialassistentin bereit sein
Entsendet wurde die Sozialassistentin dann nach Deutschland, wo sie zuletzt in Berlin eine einer 96-Jährige betreute, die in einer Seniorenwohnanlage lebt. Sie zog dort ein und war jeden Tag von morgens um sechs Uhr bis um 23 Uhr im Einsatz. Aber auch nachts, in ihrer „Freizeit“, hatte sie Aufgaben: sie musste bereit sein, gegebenenfalls das Rufen der alten Dame zu hören, um sie etwa zur Toilette zu begleiten.
Das LAG hatte zu Recht festgestellt, dass deutsches Arbeitsrecht anzuwenden ist. Jedenfalls findet nach dem Arbeitnehmerentsendegesetz (AentG) das Mindestlohngesetz auch zwingend Anwendung auf Arbeitsverhältnisse zwischen im Ausland ansässigen Arbeitgeber*innen und ihren im Inland beschäftigten Arbeitnehmer*innen Anwendung.
Auch die Arbeitszeitregeln sind nach Auffassung des LAG einzuhalten. Denn die Entgeltsätze liefen ins Leere, wenn sie nicht entsprechend der ihnen zugrundeliegenden gesetzlichen Regelung zur Anwendung kämen. Ergebnis war jedenfalls, dass der bulgarische Arbeitgeber der Klägerin € 38.377,50 brutto (4.515 Stunden x € 8,50/ Stunde) nachzahlen muss. Und das nur für das Jahr 2015.
Die Bundesregierung verfügt über keine validen Daten
Die Bundesregierung hat jetzt zu einer kleinen Anfrage der Fraktion DIE LINKE zur Situation der sogenannten „24-Stunden-Pflegekräfte“ Stellung genommen. Oder besser: sie hat im Grunde nur mitgeteilt, dass sie über keine validen Daten verfügt. Insoweit gebe es nur Schätzungen der Gewerkschaft ver.di, dass von bis zu 300 000 so genannten „24-Stunden-Betreuungskräften“ in deutschen Haushalten auszugehen sei.
Der Gewerkschaft ist das Modell der 24-Stunden-Pflege ohnehin schon lange ein Dorn im Auge. Schon seit Jahren beklagt Ver.di den systematischen Gesetzesbruch bei diesem Sparmodell.
Gewerkschaft Ver.di: das geht nicht nur zulasten der Beschäftigten, sondern auch der Menschen, die auf die Versorgung angewiesen sind
Das System sei so ausgelegt, dass die Versorgung pflegebedürftiger Menschen in Deutschland in weiten Teilen auf der illegalen Ausbeutung ausländischer Arbeitskräfte basiere, erklärt dazu Sylvia Bühler vom ver.di-Bundesvorstand auf der Homepage der Gewerkschaft.
Das gehe nicht nur zulasten der betroffenen Beschäftigten, sondern auch der Menschen, die auf eine qualitativ hochwertige Versorgung angewiesen seien. Die allermeisten dieser Kolleginnen und Kollegen seien keine gelernten Pflegekräfte, dennoch müssten sie Pflegetätigkeiten ausführen.
Es geht aber auch anders. Alternativen bieten etwa „Carifair“ von der Caritas oder „Faircare“ von der Diakonie. Hier wird darauf geachtet, dass die Vorschriften über Arbeitszeit und Mindestlohn eingehalten werden. Allerdings eine Rundum-Versorgung im Sinne des Live-In gibt es dort nicht.
Ver.di plädiert dafür, die Pflegeversicherung zu einer „Solidarischen Pflegegarantie“ weiterzuentwickeln, bei der alle pflegebedingten Kosten übernommen werden und die von allen Bürgerinnen und Bürgern solidarisch finanziert wird.
Hier geht es zum Beitrag „Bulgarische Betreuerin bekommt Nachzahlung des gesetzlichen Mindestlohns“ auf der Website von Ver.di:
https://www.verdi.de/themen/recht-datenschutz/++co++c395811a-e098-11ea-ad05-525400940f89
Hier geht es zur Antwort der Bundesregierung auf die Anfrage der Fraktion Die LINKE: https://dip21.bundestag.de/dip21/btd/19/289/1928920.pdf