Eine Glatze ist keine schwere Krankheit

Auch der komplette Verlust des Kopfhaares bei einem relativ jungen Mann ist keine schwere Krankheit, stellte jetzt das Landessozialgericht Hessen fest. Es gehe hauptsächlich um Lebensqualität. Wenn er wegen der Glatze psychische Probleme habe, müsste das ein Psychiater behandeln.

Landessozialgericht Hessen, Urteil vom 27. April 2021 – L 1 KR 405/20

Herbert Bruns (Name von der Redaktion geändert) leidet seit Jahren an Haarlosigkeit. Das ist für einen Mann Anfang 30 keine schöne Sache. Er klagt deshalb auch über psychische Probleme.

Viele Therapien blieben ohne Erfolg. Jetzt stieß er auf ein Medikament, das eigentlich Arthritis therapieren soll. Als Nebenwirkung soll es aber den Haarwuchs verstärken.

Herr Bruns beantragte deshalb bei seiner Krankenkasse die Übernahme der Kosten für dieses Medikament. Die Krankenkasse lehnte das indessen ab und verwies darauf, dass Arzneimittel, die überwiegend der Verbesserung des Haarwuchses dienten, von der Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenkassen ausgeschlossen seien.  Ein Anspruch auf Haarwuchsmittel bestünde auch nicht im sogenannten „Off-Label-Use“.

Ärzte dürfen grundsätzlich ein Medikament nicht außerhalb seines Anwendungsgebietes zu Lasten der Krankenversicherung verordnen

Hierbei handelt es sich um die Verordnung eines grundsätzlich zugelassenen Arzneimittels für eine Krankheit, für die es nicht zugelassen ist. Das Bundessozialgericht (BSG) hat in zwei Grundsatzentscheidungen in den Jahren 2002 und 2006 die Kriterien für den „Off-Label-Use“ bestimmt. Das BSG weist darauf hin, dass ein Arzneimittel auch dann, wenn es zum Verkehr zugelassen ist, grundsätzlich nicht zu Lasten der Krankenversicherung in einem Anwendungsgebiet verordnet werden könne, auf das sich die Zulassung nicht erstreckt.

Allerdings sei der Off-Label-Gebrauch von Arzneimitteln in der gesetzlichen Krankenversicherung ausnahmsweise nicht ausgeschlossen. In der medizinischen Diskussion sei man sich weitgehend darin einig, dass in bestimmten Versorgungsbereichen und bei einzelnen Krankheitsbildern den Einsatz von Medikamenten nicht völlig verzichtet werden könne, die für die betreffende Krankheit nicht zugelassen seien.

Man würde nämlich den Patienten eine dem Stand der medizinischen Erkenntnisse entsprechende Behandlung vorenthalten. Defizite des Arzneimittelrechts dürften nicht dazu führen, dass den gesetzlich Versicherten Therapien vorenthalten blieben, die unverzichtbar und erwiesenermaßen wirksam seien. Und das insbesondere dann nicht, wenn die betreffenden Medikamente außerhalb der Krankenversicherung in der nicht zugelassenen Indikation verordnet würden und verordnet werden dürften.

Die Krankenkasse darf gesetzlich Versicherten keine Medikamente verweigern, die wirksam und unverzichtbar sind

Die Verordnung eines Medikaments in einem von der Zulassung nicht umfassten Anwendungsgebiet käme aber nur unter folgenden Bedingungen in Betracht:

  1. es gehe um die Behandlung einer schwerwiegenden (lebensbedrohlichen oder die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigenden) Krankheit,
  2. es sei keine andere Therapie verfügbar und
  3. aufgrund der Datenlage bestehe die begründete Aussicht, dass mit dem betreffenden Präparat ein Behandlungserfolg (kurativ oder palliativ) erzielt werden könne.

Damit Letzteres angenommen werden könne, müssten Forschungsergebnisse vorliegen, die erwarten ließen, dass das Arzneimittel für die betreffende Indikation zugelassen werden könne. Davon könne man ausgehen, wenn entweder

  1. die Erweiterung der Zulassung bereits beantragt sei und die Ergebnisse einer kontrollierten klinischen Prüfung der Phase III (gegenüber Standard oder Placebo) veröffentlicht seien und eine klinisch relevante Wirksamkeit respektive einen klinisch relevanten Nutzen bei vertretbaren Risiken belegten oder
  2. außerhalb eines Zulassungsverfahrens gewonnene Erkenntnisse veröffentlicht seien, die über Qualität und Wirksamkeit des Arzneimittels in dem neuen Anwendungsgebiet zuverlässige, wissenschaftlich nachprüfbare Aussagen zuließen und auf Grund deren in den einschlägigen Fachkreisen Konsens über einen voraussichtlichen Nutzen in dem vorgenannten Sinne bestünde.

Kein Geld der Krankenkasse für Haarwuchsmittel

Herbert Bruns war freilich mit der Entscheidung seiner Krankenkasse nicht einverstanden und zog vor das Sozialgericht. Das gab allerdings der Krankenkasse Recht. Das Landessozialgericht (LSG) Hessen wies jetzt die Berufung des Herrn Bruns zurück.

Das LSG wies darauf hin, dass Herr Bruns das Medikament vor allem dazu einsetzen wolle, seine Lebensqualität zu erhöhen und nicht dafür, eine Krankheit zu bekämpfen. Die Behandlung von Krankheiten umfasse grundsätzlich zwar auch die Versorgung mit Arzneimitteln. Ausgeschlossen seien jedoch Arzneimittel, die überwiegend zur Verbesserung des Haarwuchses dienten.

Dies gelte erst recht, wenn das zur Behandlung von Haarausfall verordnete Arzneimittel hierfür gar nicht zugelassen sei.

Herr Bruns könne sich auch nicht erfolgreich auf einen sogenannten „Off-Label-Use“ berufen. In bestimmten Fällen habe die Krankenkasse zwar auch ein Arzneimittel für die Behandlung einer Krankheit zu gewähren, für welche das Arzneimittel nicht zugelassen sei. Voraussetzung sei jedoch unter anderem, dass es sich um eine schwerwiegende Erkrankung handele.

Der Wortlaut im fünften Sozialgesetzbuch ist eindeutig

Hiervon sei beim kompletten Haarverlust nicht auszugehen.  Die psychischen Probleme aufgrund des Haarverlust, über die Herr Bruns klage, seien mit Mitteln der Psychiatrie und Psychotherapie zu behandeln.

Das LSG konnte sich zunächst auf § 34 des fünften Sozialgesetzbuches (SGB V) berufen. In dieser Vorschrift ist unter anderem wörtlich geregelt: „Von der Versorgung sind außerdem Arzneimittel ausgeschlossen, bei deren Anwendung eine Erhöhung der Lebensqualität im Vordergrund steht. Ausgeschlossen sind insbesondere Arzneimittel, die überwiegend zur Behandlung der erektilen Dysfunktion, der Anreizung sowie Steigerung der sexuellen Potenz, zur Raucherentwöhnung, zur Abmagerung oder zur Zügelung des Appetits, zur Regulierung des Körpergewichts oder zur Verbesserung des Haarwuchses dienen.“

Da der Wortlaut eindeutig ist, konnte das LSG auch nicht zu einem anderen Ergebnis kommen. Es ist bereits fraglich, ob es überhaupt prüfen durfte, ob ausnahmsweise ein „Off-Label-Use“ hier zur Kostenübernahme durch die Krankenkasse führt. Es kommt nach dem eindeutigen Wortlaut der Vorschrift nicht darauf an, ob eine Glatze eine schwere Krankheit ist.

Wer Probleme mit seinem Aussehen hat, ist doch nicht gleich psychisch krank

Der Gesetzgeber hat eindeutig festgelegt, dass die gesetzliche Krankenversicherung Medikamente, die den Haarwuchs verbessern, nicht bezahlen muss. Darüber darf sich ein Gericht nicht hinwegsetzen und sich gleichsam anmaßen, sich an die Stelle des Gesetzgebers zu setzen.

Das ändert aber nichts daran, dass man durchaus darüber diskutieren kann, ob die Vorschrift sinnvoll ist. Der Gesetzgeber ist offensichtlich davon ausgegangen, dass Glatzen keine wirkliche körperliche Regelwidrigkeit darstellen. Wer damit Probleme hat, kann seinen Körper nicht akzeptieren und benötigt eine psychiatrische Behandlung. Grund für die etwaige psychische Krankheit ist also nicht die Glatze. Es werden Ursachen in der Persönlichkeitsstruktur oder der Psyche des Betroffenen unterstellt, die behandlungsbedürftig sind und mit seinem Aussehen nichts zu tun haben.

Wir lassen als psychiatrische Laien einmal dahingestellt, ob immer gleich eine psychische Krankheit im Spiel ist, wenn ein Mensch sein Aussehen nicht akzeptieren will. Das ist doch eher auf eine komplexe Ursachenstruktur zurückzuführen, zu der auch Vorurteile gehören und auch ein Selbstbild, das mit dem Aussehen nicht korrespondiert.

Letztlich geht es aber doch darum, ein Übel bei der Wurzel zu packen. Und wenn mit einem verbesserten Haarwuchs ein Patient ohne Psychiater auskommt, ist das doch auch im Sinne des Wirtschaftlichkeitsgebotes zielführend.

Darüber nachzudenken und etwaige sinnvolle Maßnahmen zu ergreifen, ist aber Sache der Abgeordneten des Deutschen Bundestages. Das kann und darf kein Gericht.